Großer Gott, er benahm sich ja wie der letzte Tölpel! Stand vor seiner neuen Herrin und brachte kein Wort heraus! Erst als Madame van Basten sich schon wieder abgewandt hatte, fand Francois seine Sprache wieder. "Selbstverständlich, Madame! Merci beaucoup, Madame!" Mit langsamen Schritten stieg er die Treppe hinauf und sah sich dabei in alle Richtungen um. Das Treppengeländer bestand aus einem recht empfindlichen Holz, wie er sofort sah, es musste mit einem sehr sanften Mittel poliert werden. Und auf dem hellen Teppich dort drüben könnte man jedes Staubkorn sehen, zur Not müsste er mehrmals am Tag gereinigt werden. Erst auf den zweiten Blick sah Francois überrascht, dass der Teppich tatsächlich schon blitzblank sauber war. Francois schritt weiter hinauf und gab sich alle Mühe, eine unordentliche Ecke, etwas Schmutz zu entdecken, aber es war nichts zu sehen. Der alte Butler hatte großen Respekt vor der guten Seele, die hier so penibel sauber machte. Das hatte er nicht einmal vor zwanzig Jahren gekonnt, als das Bücken ihm noch keine Schwierigkeiten gemacht hatte. Das ließ dann allerdings die Frage aufkommen, welche Aufgaben er in Zukunft zu erledigen hatte. Er konnte zwar auch etwas kochen, besonders talentiert war Francois darin aber nie gewesen, wie Madame Charlotte immer wieder amüsiert festgestellt hatte. Servieren konnte er selbstverständlich, eine tagesfüllende Beschäftigung war das aber auch nicht. Francois öffnete die Tür zu seiner neuen Zuflucht (TERERARIOM!) und betrat das kleine, aber gemütliche Zimmer, während er weiter über mögliche Aufgaben grübelte. Vielleicht sollte er auch eine Art Vorgesetzter für die anderen Angestellten werden und den Haushalt organisieren. Wenn, dann konnte dies aber auch nur eine Nebenaufgabe sein, es schien in diesem Haus alles recht reibungslos zu laufen. Es war auch ungewöhnlich, dass die Madame ihm an seinem ersten Tag gleich frei gab, um die Stadt kennen zu lernen. Francois hatte sich darauf eingestellt, zunächst alles über die Familie, das Anwesen und den Haushalt in Erfahrung zu bringen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Beatrice van Basten war eine äußerst schöne und herrschaftliche Frau und vermutlich sehr auf ihre Wirkung auf andere und ihren Ruf in der Gesellschaft bedacht. Er war in diesem Haushalt also eine Art Vorzeigebutler, der den Status seiner Herren unterstreichen sollte. Also würde er Gäste empfangen, Besorgungen in der Stadt machen und überall einen guten Eindruck hinterlassen. Das erklärte auch die unerwartete Freizeit, die er in der Stadt verbringen sollte. Sofort stellte sich Francois vor den Spiegel, betrachtete sich prüfend, zupfte etwas an seinen spärlichen Haaren herum, verjagte einige Staubkörner von seinem schwarzen Anzug und verließ das Haus.
Ein klappriger, altersschwacher Wagen fuhr stotternd über die prunkvollen Straßen der Stadt. Francois konnte sich nicht recht auf die Fremdenführergeschichten des Taxifahrers konzentrieren, zu sehr beschäftigte ihn seine neue Situation. Große Veränderungen hatte er noch nie sonderlich gemocht und dies hier war die größte Veränderung, die er sich überhaupt vorstellen konnte und vor der er sich immer so sehr gefürchtet hatte, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Das Herz wurde ihm schwer, als er an die vielen Abende dachte, als er Madame Charlotte beim Sticken und Briefeschreiben zugesehen hatte, ihren faltigen, ruhigen Händen. Wie furchtbar es gewesen war, diese geliebten Hände am Schluss so zittrig und kraftlos zu sehen. Der alte Butler vermisste seine Herrin. Drei betrügerische Ehemänner hatte Francois kommen und gehen sehen, doch er war all die Jahre bei ihr geblieben und war Madame Charlotte ein guter Butler und treuer Freund gewesen. Und nun war es ihm nicht mehr möglich, seine Madame zu beraten und zu versorgen, denn irgendjemand hatte beschlossen, dass sie lange genug gelebt hatte. Und er noch nicht.
"Hier! Wir sind da. Weiter kann ich nicht fahren. Dieser Stadtteil ist ein etwas verrückter Ort, wissen sie, und die Bewohner werden fuchsteufelswild, wenn man mit einem Auto durch das Tor da fährt.", unterbrach der Taxifahrer Francois' traurige Gedanken. Er ließ sich von dem netten Taxifahrer seinen Koffer ausladen und viel Glück für sein neues Leben wünschen, dann schritt er durch das Tor. Es war ein hübscher Ort, schön altertümlich, wie es ihm gefiel. Autos waren tatsächlich nicht zu sehen, aber er sah einen älteren Mann auf einem Esel vorbeireiten. Es wirkte wirklich alles sehr idyllisch, er hörte Gelächter vom Marktplatz her, und auf der Wiese neben der gepflasterten Straße saßen einige junge Menschen bei einem Picknick. Es war fast wie einer der Spaziergänge durch die Altstadtviertel von Paris, bei denen Madame Charlotte seine Begleitung gewünscht hatte. Ach, Paris!
Zuerst hatte er nicht gewusst, was er mit seinem restlichen Leben anfangen sollte. Nach der Beerdigung seiner lieben Herrin war ihm allerdings schnell klar geworden, dass er nichts anderes tun konnte, als Butler zu sein. Es war seine Berufung, sein Leben. Er hatte die Tochter Charlottes' angefleht, ihn in ihre Dienste zu nehmen, sie hielt allerdings nicht viel davon, einen Diener zu haben. Außerdem, hatte sie zu ihm gesagt, habe er es gar nicht mehr nötig, als Butler zu arbeiten. Madame Charlotte hätte ihm nämlich die Hälfte ihres Vermögens vererbt. Diese unglaubliche Nachricht brachte ihn etwas aus dem Konzept, nach einigen Tagen erkannte er aber, dass er kein Interesse an einem Vermögen hatte. Und so sehr er auch das Anwesen, seine Heimat liebte, ohne seine Madame war es kalt und leer. Also hatte er fast alles verschenkt und gespendet, nur einen Bruchteil des ererbten Geldes (immer noch eine enorme Summe) hatte er für alle Fälle auf dem Konto behalten. Dann hatte er sich bei einer Butleragentur gemeldet, die ihn an eine neue Familie vermittelt hatte. Und so stand er nun vor dem Haus der van Bastens. Er suchte kurz nach einem Dienstboteneingang, es war schließlich nicht besonders angemessen, durch den Haupteingang hereinzuspazieren, da er aber keinen erkennen konnte, nahm er all seinen Mut zusammen, schritt zur Haustür und betätigte die Klingel.