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„Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess' ich nimmer..“
Hierbei handelte es sich aber nicht um Granit, und somit war auch der Merkspruch, den Capra vor sich hinmurmelte, relativ unpassend. Nach ihren neuesten Forschungen, mit denen sie heute morgen erst begonnen hatte, war die mysteriöse Statue eher aus Marmor. Natürlich wäre das wohl auch ohne chemische Hilfsmittel vermutlich jedem in den Sinn gekommen, der sie gesehen hätte, doch wissenschaftlich belegt war es bis gerade eben noch nicht gewesen.
Dies war Capra heute morgen bei ihrem ersten Kaffee in den Sinn gekommen, und so hatte sie sich gleich eifrig darangemacht, ein Nachweisverfahren für Marmor zu entwickeln. Immerhin, die Statue stand schon eine ganze Weile hier herum, vielmehr stand nur ihr Kopf, die Statue selbst lag. Der Kopf nämlich war aus irgendeinem Grund abgeschlagen und stand nun 2,21 Meter – Capra hatte es eben ausgemessen – entfernt von der Statue, nunja, auf dem Kopf, gegen einen Baum gelehnt. Irgendwann hatte ein findiges Vögelchen sein Nest auf der Abbruchkante eingerichtet.
Wie auch immer, laut Capras neu entwickeltem Test bestand die Statue eben aus Marmor. Somit wurden auch die Vermutungen zahlreicher anderer Spiralstadtbewohner endlich bestätigt. Außerdem würde es zumindest etwas Licht in die Frage nach der Herkunft der Frauenfigur bringen. Angesichts einer solchen Leistung war das Ziegenmädchen unglaublich zufrieden mit sich selbst, und da es bereits Mittag war, beschloß sie, sich mit einer leckeren Mahlzeit in Fys Restaurant zu belohnen. Als Bezahlung würde ihr die kleine Gesteinsprobe dienen, die sie unauffällig aus einer der Falten des Statuengewands geschlagen hatte. Ihre Oberfläche war von den diversen chemischen Reaktionen richtig schön porös und bunt geworden.
Fröhlich sammelte die Wissenschaftlerin also ihre Instrumente zusammen, verstaute das Marmorstück in einer der zahlreichen Taschen ihres Laborkittels, und machte sich auf den Weg zu Fy.

Fröhlich tanzte Alexa die große Kopfsteinpflasterstraße entlang und versuchte dabei, nicht auf die Ritzen zu treten. Denn auf die Ritzen treten war böse! Darum achtete sie stets darauf, wohin sie ihre kleinen Füße setzte. Ihre Laune war besonders gut heute, denn sie hatte heute Morgen ihre Aufgaben bei Madame so gut und ordentlich erledigt, dass ihr heute ausnahmsweise der Nachmittag freigegeben wurde. Und da sie abends sowieso nur selten zu tun hatte, hieß das, dass ein fast komplett freier Tag vor ihr lag! Na wenn das kein Grund zur Freude war!
Um diese Besonderheit gebührend zu feiern, beschloss sie einiges ihres ersparten Geldes heute auf den Kopf zu hauen und in Fy’s Restaurant essen zu gehen. Nicht, dass das Essen dort sonderlich teuer wäre. Im Gegenteil, da man eben nicht mit Geld bezahlte, sondern mit Gegenständen, konnte man sich wahrlich nicht über ein überteuertes Essen beklagen. Meist brauchte Alexa ziemlich lange, um sich für etwas Angemessenes als Bezahlung zu entscheiden, denn sie genoss das Essen dort sehr und wollte daher keinesfalls zu wenig geben.
Ja, Alexa schätzte das Essen von Fy wirklich sehr. Und da sie dort oft für Madame Beatrice ein paar Besorgungen erledigte, schnupperte sie dabei stets nach den wundervollen Gerüchen, die dort im Restaurant umher strömten.
Alexa selbst war nur eine kleine Hobbyköchin, die es anstrebte eine gute Hausfrau zu sein, doch insgeheim war Fy, was ihre Kochkünste anbelangte, ihr Vorbild und sie hoffte, dass sie irgendwann vielleicht auch so gut kochen würde. Vielleicht würde Fy ihr ja erlauben, dass Alexa ihr ab und zu beim Kochen über die Schulter schaute, um so ein wenig von ihr zu lernen.
Erstaunt stellte Alexa fest, dass sie schon in greifbarer Nähe des Restaurants war. Wenn man so in Gedanken versunken ist, vergeht die Zeit wahrlich wie im Fluge!
Es packte sie eine Welle der Vorfreude und glücklich kichernd rannte sie nun die letzten Meter zum Restaurant [natürlich stets darauf achtend, dass sie nicht etwa auf eine Ritze trat!]
Sie hüpfte euphorisch die letzten Schritte und sprang von der Straße auf den Boden der Terrasse. Sie war da! Die Sonne ließ durch ihre Strahlen alles tanzen und ließ alles noch viel schöner aussehen als es sowieso schon war. Fy hatte hier wirklich ein Meisterwerk geschaffen. Es war so ruhig hier und.. So gemütlich! Man möchte seinen Tisch, wenn man sich erst einmal hingesetzt hat, gar nicht mehr verlassen, sondern sich immer weitere noch eine letzte heiße Schokolade bestellen, bis man platzt!
„Eine heiße Schokolade..“ Alexa freute sich schon jetzt darüber, doch erst wollte sie richtig essen. Doch wo sollte sie sich hinsetzen? Allein an einen Tisch oder zu einem der Gäste? Gab es hier jemanden, den sie kannte? Oder jemanden, der sympathisch wirkte?
Unschlüssig schaute Alexa sich um, um einen geeigneten Sitzplatz zu finden.

Capra war inzwischen ebenfalls an Fys Restaurant angekommen, ihren Beutel mit den ganzen Untersuchungsgeräten fröhlich im Kreis schleudernd. Dank der Fliehkraft konnte dabei nichtmal etwas herausfallen! Bereits angekommen schleuderte sie noch immer fröhlich, haarscharf am Gesicht eines jungen Mädchens vorbei, das etwas unschlüssig auf der Terasse herumstand.
Capra quietschte vergnügt und klopfte dem Mädchen auf die Schulter. Sie erkannte sie als eines von den Dienstmädchen der van Bastens, Alexa soweit sie sich erinnerte. Natürlich besaß die Hobbydetektivin eine Kartei aller Spiralstadtbewohner.
Auf Alexas Karteikarte stand bedauerlicherweise noch relativ wenig, und Capra kam in den Sinn, dass dieser Zufall die beste Gelegenheit war, das unauffällig zu ändern! Erfreut grinste sie das Mädchen an. „Jetzt wäre dir beinahe die Fliehkraft meiner Tasche zum Verhängnis geworden! Aber dafür habe ich jetzt die Möglichkeit, mich bei dir zu entschuldigen und mich dann mit dir an einen Tisch zu setzten und mehr über dich zu erfahren. Ich führe Kartei, die weißt schon, über alle Leute. Jede gute Detektivin braucht so etwas!“
Und ganz euphorisch zog sie das verwirrte Mädchen mit sich an ihren Lieblingstisch im Eck, von dem aus man die Straße sowie die anderen Tische am besten beobachten konnte.

August war mit seinem Bruder Henry ebenfalls auf dem Weg zu Fys Restaurant. Er war noch relativ müde, und das, obwohl er gestern kaum dazu gekommen war, irgendwelche Sterne zu beobachten. Stattdessen war sein Bruder um ungefähr 1 Uhr plötzlich vor seiner Tür gestanden, mit ziemlich malträtierter Kleidung und Zweigen sowie Stroh im Haar. Kaum hatte er sich mit einem Glas Brandy versorgt, erzählte er August, wie es dazu gekommen war: Irgendeine krumme Aktion, Parolen an der Hauswand eines korrupten Richters, und im falschen Moment die Polizei.. Henry hatte es, nach mehreren Unannehmlichkeiten geschafft, zu fliehen, und dann beschloßen, dass nun genau der Richtige Zeitpunkt für einen Besuch bei seinem kleinen Bruder wäre. Dieser lebte ja immerhin schon ein paar Wochen in der Spiralstadt und Henry hatte noch nie vorbeigeschaut.
Anschließend hatte er August bis zum frühen Morgen von Politik, Literatur, Mode und Feiern vorgeschwärmt, sodass dieser sich wahrlich nichtmehr auf Wissenschaft konzentrieren konnte.
Wie dem auch sei, August hatte sich natürlich gefreut, seinen Bruder wiederzusehen und wollte ihn nun etwas mit der Spiralstadt, seiner neuen Heimat, bekannt machen. Zuerst ging es natürlich zu einem herzhaften „Frühstück“ ins Restaurant.
So schlenderten die beiden die Straße entlang, und August erfuhr endlich von Henry, dass sein Anzug einen völlig veralteten Schnitt hatte.

Und während Alexa sich suchend nach einem Tisch umsah, sah sie in ihren Augenwinkeln auf einmal eine Tasche nah an ihrem Gesicht vorbeischnellen. Erschrocken wich sie etwas zurück und stieß dabei gegen die Person, der die Tasche gehörte. Es war Capra, ein nettes Ziegenmädchen, soweit Alexa dies beurteilen konnte.
Bevor Alexa begreifen konnte was geschah, entschuldigte sich Capra bei ihr, erzählte etwas von Karteikarten und ein paar Sekunden später saßen die zwei an einem Tisch. Alexa war mit der Situation zwar überfordert, doch Capra schien dies nicht wirklich zu bemerken, sondern plauderte fröhlich weiter, vermutlich mit dem Ziel, Alexa näher kennen zu lernen.
Alexa freute sich über dieses unverhoffte Gespräch. Sie wusste nicht viel über dieses Mädchen, doch ihre quirlige und offene Art war ihr sehr sympathisch und es machte ihr Spaß, zuzuhören- auch wenn sie nicht allem richtig folgen konnte.
So saßen die beiden da, bestellten etwas zu essen und redeten ein wenig. Und während Alexa ein wenig von sich selbst erzählte, näherten sich August und Henry dem Restaurant und suchten sich einen Platz. Gerade als Alexa ihre Erzählung über ihre Arbeit bei Madame Beatrice beendet hatte, fiel ihr Blick auf die beiden jungen Herren.
Was wohl ein sehr gutes Timing war, denn hätte Alexa noch das Wort gehabt, wäre sie entweder total verstummt oder einfach nur in sinnloses Gebrabbel übergegangen.
Und so redete Capra mit sich selbst, denn Alexa bekam nicht ein Wort mit. "Wer ist nur dieser herrlich famose Mann dort drüben?" fragte sie sich.
Sie hörte nicht viel von dem, was er sagte, doch seine Stimme war so fantastisch.. und er klang so allwissend! Er musste wirklich absolut belesen und intelligent sein. Und zudem SO gut aussehend!
So träumte Alexa von ihrer Hochzeit mit diesem Fremden, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Sie träumte von ihren Kindern. Von den Namen der Kinder. Der Kleider der Kinder. Der Schuhe der Kinder. Von den Geburtstagen der Kinder! Ob er ihren Hochzeitstag wohl vergessen würde? Nein, sicher würde er sie mit Blumen überraschen!
Wer war er nur, dieser Fremde! Er saß zusammen mit August da, welchen sie leider nur ein wenig kannte. Ob sie ihn dazu bringen konnte, sie miteinander bekannt zu machen! Oh, sie war doch so schlecht darin, Leute unauffällig um etwas zu bitten, er würde sie sicherlich ausfragen, was sie denn damit bezwecke!
Capra und Alexa hatten inzwischen das Hauptgericht beendet und saßen nun am Dessert. Und sollte Capra bisher Alexas geistige Abwesenheit nicht aufgefallen sein (was bei ihrem Scharfsinn natürlich unwahrscheinlich ist), so dürfte sich das spätestens geändert haben, als Alexa sich Salz anstatt Zucker in ihre heiße Schokolade schüttete und diese ohne eine Miene zu verziehen trank.
Sei musste ihn irgendwie kennen lernen, irgendwie! Allerdings sollte sie vorher versuchen, irgendwie ihre Stimme wiederzufinden. Und eventuell einen Hauch einer Idee entwickeln, was sie sagen wollte.
Und apropos sagen- sie sollte vermutlich mal etwas zu Capra sagen. Die schaute sie nämlich fragend an. Doch Alexa hatte nichts von dem Gespräch mitbekommen. Was erwartete Capra? Was sollte Alexa tun??
Sie geriet in Panik. Sie lief hochrot an und überlegte, wie sie unauffällig ablenken konnte. Dabei stieß sie in ihrer inneren Panik ihre Tasse mit der heißen Schokolade um. Ihre Tasse wiederum stieß gegen Capras Eiskaffee-Glas, welches ebenfalls umkippte. Alexa hörte einen Schrei, doch es war nicht Capra, sondern sie selbst, die geschrieen hatte. Die Desserts verteilten sich auf dem Tisch und tropften auf den Boden. Einiges kam auch auf Alexas Kleider. Immerhin Capras Tasche hing in sicherer Entfernung an der Stuhllehne. Im Restaurant wurde es laut, die Leute drehten sich zu ihnen um. Auch Henry und August schauten zu ihnen herüber.
Alexa wurde noch röter im Gesicht und war den Tränen nahe. So eine Peinlichkeit! Sie hatte gewollt, dass ihr Traumprinz sie in Erinnerung behält, allerdings hatte sie nicht an SOWAS gedacht!
Sie wollte nur noch im Erdboden versinken, während sie dutzende Servietten auf den Tisch legte, um die Misere zu begrenzen, während sie sich tausend Mal bei Capra entschuldigte. Immerhin musste sie nun nicht mehr auf die letzte Frage antworten, also hatte sie immerhin ein Ziel erreicht.

Henry war ausgesprochen guter Stimmung, und das, obwohl er einen von August völlig veralteten und dazu viel zu langen Anzügen trug. Wäre er doch nur auch so groß und schlank gebaut wie sein Bruder.. Überhaupt hatte dieser alles an hübschem Aussehen abbekommen. Sein fast blondes Haar und seine hellblauen Augen kamen sicherlich auch bei der Damenwelt ausgesprochen gut an.
Warum also hockte er die ganze Zeit in seiner Wohnung und kam nur bei Nacht heraus? Welch Verschwendung.. Henry konnte es einfach nicht verstehen. Immerhin, so machte sein kleiner Bruder ihm keine Konkurrenz. Obwohl die Damen sich sicherlich auch eher für Henrys politische Aktivität als für August Sternenspinnereien interessierten. Zum Beispiel das Mädchen vor zwei Tagen.. Er musste unbedingt noch ihren Namen herausfinden..
Bei dem Gedanken an sie wurde Henry ganz aufgeregt. Er musste August unbedingt von ihr erzählen, wenn sie mit dem Essen - das übrigens ausgesprochen gut war - fertig waren.
Gerade als er so seinen Gedanken nachhing (August redete was von der Entfernung zum Mond und irgendwelchen komischen Studien, die Henry sowieso nicht verstand, und von denen August insgeheim auch nicht erwartete, dass er sie verstand. Er konnte also ganz beruhigt sein Hirn ausklinken) brach ein unglaubliches Scheppern am Nachbartisch los und schreckte ihn auf.
Eiskaffee, Sahne, und vor allem heiße Schokolade waren überall. Anscheinend hatte das Dienstmädchen, das wohl einen freien Tag hatte, alles verschüttet. Jetzt war sie ganz verzweifelt mit Aufwischen beschäftigt, während das merkwürdige Ziegenmädchen alles mit einer rießigen Kamera photographierte.
Henry erkannte auf einen Blick, dass sich die ganze Sauerei nicht so ohne weiteres beseitigen lassen würde, und so griffen er und sein Bruder, beide bestens erzogen, ohne lang nachzudenken nach dem Serviettenstapel auf ihrem Tisch und knieten sich zu den beiden Mädchen, um auf der Terasse herumzuwischen.

Es tut mir so leid, so leid, so leid!" wiederholte Alexa immer wieder und wieder. Ihre Wangen hatten inzwischen ungefähr den Farbton ihrer Haare angenommen, so peinlich war ihr das Ganze.
Und es blieb ihr auch nicht viel Zeit zum Beruhigen. Denn während sich die meisten Leute wieder abwendeten und das ungeschickte Dienstmädchen nicht weiter beachteten, so waren es ausgerechnet August und der andere Mann, ihr Traumprinz, welche (mit Servietten bewaffnet) zu ihnen kamen, um mit ihnen sauber zu machen.
Alexas Hand begann zu zittern. Das lief alles ganz, ganz falsch!!
Sie musste wie ein unfähiges kleines Ding wirken. Dabei arbeitete sie immer so hart daran, aus sich selbst eine gute, zukünftige Ehefrau zu machen!
Und da musste ausgerechnet ihr (ihrer Meinung nach) zukünftiger Ehemann so etwas miterleben? Das war ja wirklich typisch! Und als wäre das nicht genug gewesen, so hatte Capra auch noch Fotos gemacht. Es war festgehalten, Leugnen zwecklos! Alexa hatte versagt, definitiv. Was gab ihr überhaupt das Recht, noch weiter hier zu bleiben? Sie schämte sich sehr, doch natürlich konnte sie nicht gehen, bevor nicht alles wieder sauber war.
"Und auf unserer Hochzeit werden diese Fotos herumgehen und dann wird er mich für unfähig und ungeschickt halten und mich nicht länger heiraten wollen, ganz gewiss!" fürchtete Alexa in Gedanken, während Henry nichtsahnend einfach ein wenig saubermachte.
Dies wäre die perfekte Möglichkeit, um seinen Namen herauszufinden. Doch sie war so beschämt, sollte sie diesen schrecklichen Augenblick wirklich noch für etwas Positives nutzen?
Es sprach viel dagegen. Doch wenn sie seinen Namen wüsste, dann hätte er in ihren Hochzeitsträumen nicht nur einen Namen, nein dann könnte sie gleich heute Abend üben, mit ihrem neuen Namen zu unterschreiben, da sie selbstredend seinen Namen annehmen würde!
Doch wie sollte sie das nur anfangen?
Inzwischen hatten sie die Sauerei tatsächlich ziemlich gut beseitigt, es war nicht mehr viel zu sehen. So richteten sie sich auf und entfernten (einen wirklich großen Haufen) Servietten.
"Ich.. ich.. ich.." begann Alexa stotternd. Es fiel ihr schwer, noch mehr herauszubringen, doch hier kam ihr ihre anerzogene Höflich- sowie Freundlichkeit zu Hilfe, welche ihr Wörter in den Mund legte, ohne dass sie wirklich sicher wusste, was sie da sagte.
"Ich bedanke mich herzlichst für Ihre Hilfe!" sagte sie und verbeugte sich. "Das alles tut mir leid, normalerweise bin ich nicht so ungeschickt!" sagte sie, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber sie wollte unmöglich ihren strahlenden Ritter in dem Glauben bzw. Wissen lassen, dass es möglich sein könnte, dass ihr so etwas öfter passieren könnte.
"Ich bitte noch einmal um Verzeihung Capra, es tut mir ehrlich leid!" sagte sie mit verzweifelter Miene.
"Ich danke Ihnen, Henry!" sagte sie und verbeugte sich kurz. Dann drehte sie sich zu Henry und nahm all ihren Mut zusammen.
"Und Ihnen danke ich auch, Herr.. Herr..Ich.. also..Dürfte ich Ihren Namen erfahren, damit ich Ihnen richtig danken kann?"
Mit diesen Worten verbeugte sie sich entschuldigend schon im Vorfeld vor Henry. Ihr Blick blieb auch als sie wieder gerade stand an seiner Kleidung hängen, weil sie es nicht wagte ihm in die Augen zu sehen.
Was musste er nur von ihr denken??

Von drei Menschen war das ganze Unglück relativ schnell beseitigt, und schon bald erhob sich Henry wieder, noch immer sehr gut gelaut, vom Boden, und leckte Schokolade von seinem kleinen Finger. Ehw.. Salzig.. Er merkte sich vor, in diesem Restaurant - sie würden es sicher noch öfter besuchen, da es das einzige hier war - niemals eine Schokolade zu bestellen. Trotzdem musste er lächeln. Sicherlich war die Köchin, diese Fy, total verliebt und hatte deshalb Zucker und Salz verwechselt. Wie sehr ihn solche Geschichten amüsierten, besonders bei seiner momentanen Gemütslage.
Die Liebe, die Liebe.. Ganz so in seine Gedanken versunken hatte er Alexas mehrmalige Entschuldigungen und Danksagungen überhaupt nicht wirklich mitbekommen. Erst als sie sich direkt an ihn wandte und ihn nach seinem Namen fragte, erinnerte er sich wieder an sie. Freundlich lächelte er das - ziemlich aufgelöste - Mädchen an. "Henry Kennington, Augusts Bruder. Keine Ursache." Er nickte ihr freundlich zu.
Nachdem sie ihre schmutzigen Servietten weggeworfen hatten, setzten August und Henry sich ohne weitere Umschweife wieder an ihren Tisch und setzten ihr Mittagessen (bzw. Frühstück) fort. Henrys Gedanken drehten sich schon wieder um das unbekannte Mädchen, während er das Dienstmädchen schon wieder sogut wie vergessen hatte.

Capra war mit dem Verlauf des Essens äußerst zufrieden. Sie hatte schon einiges mehr über Alexa herausgefunden, zum Beispiel, dass diese entweder wegen irgendetwas ziemlich verwirrt war, oder einen sehr außergewöhnlichen Geschmackt hatte. Sie kippte nämlich anstelle von Zucker Salz in ihre Schokolade.
Dass alles verschüttet wurde, war für das Ziegenmädchen nur eine weitere günstige Gelegenheit, denn so konnte sie unauffällig Photos von Alexa machen, für die Kartei. Außerdem gab die ganze braune Flüssigkeit ein tolles Muster auf dem Terassenboden.
Und obendrei hatte sie jetzt auch den Namen von Augusts Bruder Henry erfahren, und von ihm auch ein Photo gemacht. Sie konnte also am Nachmittag gleich eine weitere Karteikarte anlegen!
Als die beiden Brüder sich wieder an ihren Tisch zurückgezogen hatten und somit ziemlich außer Hörweite waren, gluckte Capra vergnügt. Sie hatte bereits einen Ersatz-Eiskaffee erhalten, und zudem eine äußerst interessante Entdeckung gemacht. Vorsichtig beugte sie sich zu Alexa hinüber und flüsterte dem Mädchen ins Ohr: "Sagmal.. Ist dir an diesem Henry, dem mit der lächerlichen Frisur, irgendwas interessante aufgefallen?" Sie kicherte wiederrum vergnügt los. Womöglich war sie gerade dabei, ein größeres Verbrechen aufzuklären!

"Henry Kennington" sagte er mit einem absolut umwerfenden, nur für sie bestimmten Lächeln (das war es zumindest, was Alexa glauben wollte).
Henry Kennington. Alexa Kennington. Alexa Kennington.
Oh, sie würde diesen Namen sicher noch oft niederschreiben, um für den Ernstfall (wie immer der aussehen soll) gewappnet zu sein und ihn dann mit einer Anmut und Grazie zu schreiben, wie es dieser edle, wunderschöne Name würdig war.
Henry Kennington. Oh, war dieser Mann nicht zauberhaft? So zuvorkommend und nett und höflich und intelligent (woher auch immer sie ausgerechnet DIESE Information hatte)! Bei all dieser Freude vergaß Alexa ganz, dass sie eigentlich gerade noch im Begriff gewesen war, sich zu schämen.
Alexa bedankte sich noch einmal aus tiefstem Herzen bei Henry.
Und da war der Moment auch schon wieder vorbei. Die beiden Brüder saßen zu Tisch und führten ihr Essen fort, während von ihrem Dessert natürlich nicht viel übrig geblieben war.
Glücklicherweise hatten sie einen Ersatz bekommen, weshalb Alexa sich vornahm, noch einmal eine Ladung Kekse zu backen und sie später Fy als zusätzliche Zahlung vorbei zu bringen (sowohl für ihr eigenes Dessert als auch für Capras), da sie sich schämte für ihre Unachtsamkeit auch noch eine Art Belohnung zu bekommen.
Da merkte Alexa, wie Capra sich zu ihr vorbeugte und flüsterte:"Sag mal.. Ist dir an diesem Henry, dem mit der lächerlichen Frisur, irgendwas interessante aufgefallen?"
Alexa zuckte bei der Erwähnung seines Namens leicht zusammen. Sie schüttelte langsam den Kopf und wisperte nur, ohne darüber Nachzudenken "Also ich finde seine Frisur keineswegs lächerlich.."
Doch sie merkte, dass sie wieder begann rot zu werden, darum wollte sie das Thema wechseln. Und dies fiel ihr nicht schwer, denn ihr fiel auf, dass auch Capras Kleidung ein paar Spritzer Eiskaffee abbekommen hatte.
Und so geriet Henry für eine kurze Zeit in Hintergrund, weil Alexas Bestreben dieses schreckliche Ungeschick ungeschehen zu machen, die Überhand ergriff.
Sie bestand darauf, unbedingt Capras Kleidung zu waschen. Mit Hand. Und falls sie Interesse habe, würde Alexa ihr auch gerne helfen, in ihrem Haus ein wenig aufzuräumen.
Anderen Menschen wäre dabei vielleicht noch in den Sinn gekommen, dass man dabei vielleicht versuchen könnte, die peinlichen Beweisfotos verschwinden zu lassen, doch so weit dachte sie gar nicht.
Aufgefallen war ihr allerdings, das Capra Henry fotografiert hatte.. Und ein Foto von ihrem Angebeteten war tatsächlich etwas, was sie unbedingt brauchte, denn wie nur sollte sie JEMALS ohne weiterleben?
Vielleicht wäre Capra ja bereit, eine Kopie des Fotos gegen ein wenig Haushaltshilfe oder ein paar Kekse oder so einzutauschen. Sie brauchte nur noch dringend einen triftigen Grund, wofür sie denn bitte das Foto brauchte.
Alexa seufzte leise, während sie einen letzten Schluck ihrer (ungesalzenen) Schokolade trank und sich wunderte, wie sich das Leben innerhalb weniger Minuten verändern konnte.

Da Alexa anscheinend nicht dazu ambitioniert war, Capras Entdeckung zu erraten, sondern stattdessen irgendwas von Flecken (welche Flecken? Capras Laborkittel war übersäht von Flecken!) und Waschen und Aufräumen und Haushalt murmelte, woraufhin Capra sie einfach einlud, sie nach dem Essen zu sich nach Hause zu begleiten, beschloß diese, dem Ratespiel ein Ende zu machen.
Verschwörerisch zwinkerte sie dem Mädchen zu. "Dieser Henry.. Trägt einen Anzug von seinem Bruder. Er ist ihm um einiges zu groß!" Fröhlich nippte sie an ihrem Eiskaffee. "Daraus lässt sich natürlich ganz einfach und logisch schließen, dass er ein Verbrecher ist. Er muss gestern irgendein Verbrechen verübt haben - vermutlich einen Mord - und zu seinem Bruder geflohen sein. Dann hat er seine - vermutlich blutverschmierten - Klamotten bei diesem gelassen und sich von ihm Kleidung geliehen."
Nach dieser Eröffnung lehnte sich das Ziegenmädchen zufrieden zurück und wartete Alexas Reaktion auf den Geniestreich ab. Dass es neben Mord aus Millionen anderer Möglichkeiten gab, seine Kleidung zu Verschmutzen, war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

Nachdem Alexa von Capra eingeladen worden war, sie nach dem Essen zu begleiten (was ihr Gewissen sehr erleichterte), begann Capra auf einmal etwas von Mord, Blut und zu großen Anzügen zu reden.
Und das mit Bezug auf ihren Henry!
Früher war Alexa eher skeptisch gegenüber Männern gewesen. Ihren Vater hatte sie ja nie kennen gelernt und auch sonst hatte sie keine männliche Bezugsperson gehabt. Selbst dort wo sie aufgewachsen war, im Hause der van Bastens, hatte sie stets nur die Unzuverlässigkeit und Abwesendheit von Männern am Beispiel des Hausherren erlebt.
Natürlich war Alexa sich bewusst, dass nicht alle Männer so sind. Und es gab einige Männer, mit denen sie sich gut verstand, mit dem Gemüsehändler etwa, welcher ab und zu im Preis für sie etwas herunterging, oder der Fischer, welcher ihr stets den frischesten Fisch bereitlegte. Doch all diese Bekanntschaften waren oberflächlich und sie hatte selten mit Gleichaltrigen Männern geredet.
Doch nun war sie Henry begegnet und sie wusste, dass sich nun alles ändern würde. Denn Henry würde sie nie enttäuschen, gewiss nicht.
Darum war es unfassbar, was Capra da über die Lippen gekommen war, absolut unmöglich!!
Im ersten Moment entglitten Alexa ein wenig ihre Gesichtszüge und sie sah nicht sehr damenhaft aus. Doch dann fing sie sich wieder.
Denn das konnte ja nicht sein. Oder? Ach UNSINN.
Ihr Henry hatte vermutlich seinen Anzug jemandem gegeben, der ihn dringend brauchte, und sich dazu aufgeopfert, einen für ihn zu großen Anzug anzunehmen. Er war ein Held!
Alexa lächelte erleichtert bei dieser Erkenntnis, die ganz sicher der Wahrheit entsprach. "Er ist ein Held! Ich bin sicher, dass er ein Ehrenmann ist." sagte Alexa lächelnd und überzeugt zu Capra.
Anders konnte es nicht sein, und vermutlich würde Alexa nicht einmal dann was anderes glauben, wenn Henry höchstpersönlich aufklären würde, warum er einen zu großen Anzug seines Bruders trägt.

August und Henry hatten ihre Mahlzeit nach der kurzen Unterbrechung gebührend beendet und machten sich nun auf den Weg zur Besichtigung der Dorfkirche. Anschließend würden sie nach Hause zurückkehren und gegen späten Nachmittag ein Picknick im Park einnehmen.
August war sehr begeistert davon, dass sein Bruder ihn schließlich doch einmal in der Spiralstadt besuchte. Er brannte darauf, ihm all die einzigartigen Bewoher vorzustellen und überlegte bereits, wie er eine kleine Feier organisieren konnte. Obwohl er erst relativ kurze Zeit in der Spiralstadt lebte, war er bereits mit den wichtigsten Einwohnern einigermassen vertraut, etwa Fy, der Köchin, Capra, der durchgedrehten Detektivin, und auch Nathan, dem mysteriösen Pfarrer. Abgesehen davon interessierte es ihn natürlich auch, was Henry so machte. Er ahnte bereits, dass er wieder Schwärmereien von dem ein oder anderen Mädchen zu hören bekommen würde.
So machten sie die beiden Brüder auf zu ihrem kleinen Rundgang, und beide hatten den kleinen Zwischenfall bereits vergessen.

"Er ist ein Held! Ich bin sicher, dass er ein Ehrenmann ist."
Auf diese Äußerung Alexas konnte Capra nur wissend lächeln. Sie wippte mit ihrem Stuhl, zufrieden damit, dass sie jemanden gefunden hatte, dem sie ihre Kriminalgeschichten erzählen konnte.
"Die Ehrenmänner.. Jaja, morden nicht meist die Ehrenmänner? Abgesehen davon ist sein Bruder, August, auch etwas merkwürdig. Ein genialer Wissenschaftler, ohne zweifel, und er besitzt ein hervorragendes Teleskop. Unter uns, vermutlich ist Henry nicht allzu intelligent. Er braucht einen Kopf, der alles plant."
Obwohl Alexa natürlich noch nicht besonders vertrauenswürdig war, konnte es außerdem wertvoll sein, eine Verbündete im Anwesen der Van Bastens zu haben, die Capra schon seit einer ganzen Weile in Beobachtung hatte..
Obwohl, vielleicht steckte das Dienstmädchen sogar selbst in der Mordgeschichte mit drin.. Das würde auch erklären, warum sie sich betreffs Zucker und Salz so außergewöhnlich verhielt.
Egal, ersteinmal musste Capra herausfinden, wer denn überhaupt ermordet worden war - denn dass es einen Mord gegeben hatte, soviel war sicher. Die heutige Zeitung hatte sie noch garnicht studiert, und so kramte sie diese gewissenhaft aus ihrer Tasche. Die Titelgeschichten waren uninteressant, eine Menge Klatsch über Prominente Persönlichkeiten der Großstadt, über einen Waldbrand irgendwo völlig anders, über sonstiges.. Erst auf den nächsten Seiten entdeckte Capra eine interessante Geschichte über eine Parole, die an die Hauswand eines Richters geschmiert worden war, vermutlich von einer Vereinigung politisch engagierter junger Schriftsteller. Der "Verbrecher" (eher geringe Körpergröße, dunkles, langes Haar, Adlernase) war entdeckt worden, und nach einer kurzen Verfolgungsjadt geflohen. Das ganze hatte sich relativ nah an der Spiralstadt abgespielt.
Das ganze passte enttäuschend gut auf Augusts Bruder. Capra seufzte. Sie wollte doch nur endlich einen Mord. War das denn zu viel verlangt?
Doch ihre Niedergeschlagenheit währte nicht lange. Sie beglich die Rechnung mit der Gesteinsprobe, die jetzt zusätzlich noch über ein paar Kaffeeflecken verfügte, und verließ mit Alexa das Restaurant. Irgendwie fand sie das Mädchen erfrischen. Wie herrlich naiv sie war..
Auf dem Weg las sie ihr den Zeitungsartikel vor und erklärte, dass es sich dabei um ihre neue Bekanntschaft handeln musste. Er war spät in der Nacht bei August eingetroffen, sonst hätte Capra, die Nachbarin des Astronomen, das sicherlich mitbekommen.
"Also," schloß das Ziegenmädchen begeistert, "Ist unser Edelmann Henry doch ein Verbrecher, wenn auch von einer anderen Sorte. Und ein ziemlich dämlicher dazu. Nicht einmal eine Maske hat er getragen.. Nicht einmal seine auffällige Frisur verborgen. Ich muss ihn bei Gelegenheit darauf aufmerksam machen."
So hatte sie Alexa also fröhlich vollredet, und inzwischen waren sie schon beinahe beim Haus der Detektivin angekommen.


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