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Auch Lucky freute sich, dass sie endlich am Ziel waren, denn es begann, frisch zu werden, und Luckys Wollstrumpfhose war schlammverklebt. Kein schönes Gefühl. Es war Zeit für eine Tasse Tee! Niaha.
"Macht die Kiste auf!" frohlockte Lucky. Sie freute sich schon auf den Inhalt.
Ein Glück war sie nicht auf die Idee gekommen, die Kiste zusätzlich mit einem Schloss versehen zu lassen, sonst hätte das Ganze wohl noch ewig gedauert.
Nach kurzer Zeit beugten sich alle über die geöffnete Kiste und es gab ein kleines Gedrängel, denn jeder wollte den Schatz zuerst sehen! Irgendwer beförderte Wolldecken ans Tageslicht, und Lucky schnappte sich die darunterliegenden Thermoskannen. Einen Moment lang meinte sie, Enttäuschung in den Gesichtern einiger ihrer Freunde zu erkennen - aber sie musste sich täuschen. Wer freute sich denn nicht über Tee!?
"Wundervoll!" frohlockte Lucky, riss die Wolldecken an sich und breitete sie sorgfältig unter dem Baum aus. Glücklicherweise war der Boden vom Blätterdach geschützt relativ trocken geblieben. Sie schmiss sich förmlich auf die Decke und stellte den Picknickkorb in die Mitte.
"Zeit für Sandwich und Tee!"

Das Picknick wurde noch absolut harmonisch, auch wenn Capra erstmal jedes Lebensmittel auf verschiedene Gifte untersuchte, Henry seiner Bügelfalte hinterhertrauerte, August mittendrin einschlief und Edgar unablässig glitzerte. Einige Stunden später kehrte das kleine Grüppchen zwar immernoch schlammverkrustet, aber höchst zufrieden in die Spiralstadt zurück.
Ein junger Mann mit blonden, zurückgegeelten Haaren kam ihnen entgegen. "What ho, Henry?". Der mysteriöse Besucher klopfte Henry auf die Schulter und zuckte erstaunt zurück, als eine Schicht Schlamm abbröckelte. Schwungvoll wedelte er sich den Staub vom Ärmel. "Henry, Henry Henry.. Du scheinst das Gelage neulich ja ganz gut überstanden zu haben, immerhin kannst du inzwischen schon wieder gerade gehen!" Er lachte etwas hämisch. "Sagmal, du hast inzwischen nicht zufällig Post bekommen?"

Henry war durchaus überrascht, auch einmal einen seiner Freunde aus der Stadt hier im Spiralstädtchen zu sehen. Bisher hatte er Berufliches (seinen Club, Feiern, ausschweifende halb illegale Aktionen, Frauengeschichten..) und Privatleben eher getrennt gehalten.
Im Gegensatz zu Richard dachte er aber garnicht voller Freude an die Feier neulich zurück. Genaugenommen war das einzige, das ihm vom Abend im Gedächtnis geblieben war, der Morgen gewesen, an dem er mit schrecklichen Kopfschmerzen und ziemlich verdreht mit den Füßen auf einem Sessel und dem Rest seines Körpers auf einige Kaffeetische verteilt erwacht war. Er hatte an diesem Abend definitiv zu tief ins Glas geschaut, aber damals war er ja auchnoch so schrecklich verliebt gewesen. Irgendwo in den tiefen seines Gehirns erinnerte er sich sogar dunkel, dass er irgendein Gedicht für seine Angebetete geschrieben hatte. Bestimmt war es ganz wundervoll und inspiriert gewesen, und natürlich hatte er es, wie alle seine wahren Meisterwerke, wiedermal nirgends festgehalten, weil es im Eifer des Gefechts einfach so aus ihm herausgesprudelt war. Zu Schade. Vielleicht sollte er mal seine Freunde überreden, seine geistigen Ergüsse immer mitzuschreiben, dann könnte er sie immerhin zur Abwechslung auch mal mitbekommen, wenn auch nur nachträglich.
Egal, Richard war nun jedenfalls da.
"What ho, Richard. Post? Keineswegs. Aber was führt dich her?" Er wollte den Gruß seines Freundes durch eine (äußerst männliche) Umarmung erwidern, doch aus irgendeinem Grunde wich dieser vor ihm zurück.

Als die Gruppe wieder im Dorf stand, starrten sie alle noch vor Dreck und sie zitterten ein wenig ob der nassen Klamotten, in denen sie dastanden - oder auch im Falle von Edgars nacktem Oberkörper - nicht dastanden. Der junge Kallen beklagte hin und wieder mit einem Murmeln oder einen leisen Schniefen immernoch die Kratzer in seinen sonst doch so makellosen Lackschuhen, die er den Schicksalsschlägen dieser unendlich grausamen Welt zu verdanken hatte.
Doch trotzdem hatte er ein seltsames Gefühl in der Magengegend verspürt, als sie ihr eher unbehagliches Picknick einnahmen. War es...Freude? Nein. Er war untot und konnte doch gar keine Freude empfinden. Vielleicht war ja doch ein umbestimmtes Gift im Kakao gewesen, welches Carpa nicht hatte aufspüren können.
Als wäre es nicht genug, diese Magenverstimmung zu haben, tauchte auch noch jemand - scheinbar ein Freund von Henry auf. Na super. Ganz toll. Jetzt sah ihn auch noch jemand in diesem furchtbaren Aufzug. Verdreckt, nicht Glitzernd, mit Kratzern in den Schuhen und einem zerrissenem Umhang. Verzweifelt heulte er auf und rannte so schnell er konnte zu seiner neuen Wohnung zurück. Schluss jetzt! Jetzt war es an der Zeit, sich in der Badewanne zu ertränken, endlich aus diesem schrecklichen Jammertal namens Leben zu entfliehen. Aber.. wenn er bereits tot war, würde das nicht viel helfen. Also... würde er vielleicht nur ein Bad nehmen und dazu eine weitere Tasse heißer Schokolade trinken.

Auch Lucky war sehr froh, als sie endlich wieder in das kleine Sträßchen der Spiralstadt einbogen. Sie freute sich nun auf einen gemütlichen Abend in ihrer Rosaflauschelefantenschlafanzughose und ihrem Rosaflauschelefantenschlafanzugoberteil, doch dann wurde sie von einer ihr unbekannten Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Vor ihnen stand ein blonder junger Mann mit zurückgegeelten Haaren, der Henry freundschaftlich tätschelte und wohl, genau wie Henry, versuchte, äußerst cool und männlich zu wirken. Lucky fand ihn toll. Gerade wollte sie ihr strahlendstes Lächeln aufsetzen, um ihn herzlichst in der Spiralstadt willkommen zu heißen, da sagte er etwas von Trunkenheit und einem Brief.. von Henry.. den sie vermutlich gerade in der Hand hielt. Es machte Klick. Die Lieblichkeit war nun vergessen!
Mit zerknüllter "Schatzkarte" in ihrer erhobenen Faust stürmte Lucky auf den blonden Mann zu und unterbrach das männliche Begrüßungsritual mit den Worten: "Wessen Schrift zur Hölle ist das!?" Wütend wedelte sie mit dem Brief vor des Mannes Nase herum.

Richard lachte herzlich. "Hallo, meine Schöne, wieso so stürmisch?" Dann nahm er den schmuddeligen Zettel in die Hand und musste wieder lachen. "Ach, dieser Brief! Ja, das ist meine Handschrift - Henry hat mir die Zeilen poetisch wie immer diktiert.
Och Henry, da hat dir deine Herzensdame wohl ne Absage geschickt. Meine Güte waren wir betrunken! Ziemlich obszön, wenn ich mir das jetzt so im Nachhinein anschaue.. Nun ja, ich muss dann auch mal wieder weiter!" Er zinkerte ein letztes mal in die Runde und spazierte dann pfeifend von dannen. Missetat begangen.

Luckys Bäckchen liefen rosarot an. Aber nicht, weil sie wie sonst vielleicht geschmeichelt von der netten Begrüßung des Fremden wäre. Sie atmete einmal tief durch und drehte sich zu den anderen um.
"Es war ein netter Nachmittag mit euch, meine Lieben! Wir sollten uns demnächst wieder treffen, und jetzt, kommt gut nach Hause!" Sie winkte. "Du nicht, Henry!" hängte sie mit scharfer Stimme an. "Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Auch wenn du dich vielleicht nicht mehr an diesen Brief erinnerst, er stammt eindeutig von dir! Was hast du dir nur dabei gedacht!?" Wütend piekste sie mit ihrem Finger wieder und wieder beschuldigend in Henrys Brust. "Du hast die Unschuld aller Spiralstadtbewohner gefährdet. Und außerdem! Sieh dir meine Strumpfhose an!" Sie zeigte an sich herunter. "Weißt du, was ich wegen deiner Spinnereien für eine Mühe hatte!? ICH musste immerhin dafür sorgen, dass keiner hinter deine obszönen Absichten kommt! Und jetzt habe ich auch noch eine mords Wäschereirechnung zu zahlen. Weißt du eigentlich, was es kostet, SO VIEL SCHLAMM aus einem Kaschmirpullover wieder rauszukriegen!? Wenn er denn nicht schon völlig hinüber ist!" Lucky war richtig in Fahrt. "Weißt du was, Henry Kennington? Ich bin enttäuscht, maßlos enttäuscht von dir! DU, als rechtschaffener, gestandener Mann..!" Vorwurfsvoll schüttelte Lucky den Kopf. "Das hätte ich nicht erwartet! Die Wäschereirechnung werde ich dir dann zukommen lassen."

Wäre Richard nicht schneller verschwunden, als Henry brauchte um zu realisieren, dass es sich bei den scheinbaren Schatzsucheanweisungen um sein "Meisterwerk" von vor fünf Tagen handelte, hätte der Pazifist ihn wohl bereits leicht gewalttätig am Kragen gepackt und friedfertig durchgeschüttelt. Doch da Henry den Brief, der zur Schatzsuche angeregt hatte, bisher garnicht gelesen hatte, fand er für ein paar Sekunden lang nichts schlimmes daran, dass seine Freunde seine Worte liebenswerterweise mitgeschrieben hatten. Wie überaus nützlich!
Doch als er den Brief, den Richard ihm in die Hand gedrück hatte, durchgelesen hatte, war Henrys Gesichtsfarbe dunkelrot. Ob vor Scham oder vor Wut, wusste er selbst nicht. Richard konnte doch unmöglich tatsächlich diesen obszönen Brief abgeschickt haben! Und wie war er überhaupt dazu gekommen, sich so etwas zu denken, geschweige denn, es in der Öffentlichkeit verlauten zu lassen!
Im gleichen Moment begann Lucky, wie eine Höllenfurie über ihn herzufallen und ihn mit verschiedensten Vorwürfen zu bombardieren, sowie ihn mit Todesblicken des Todes zu bedenken. Hilfesuchend schaute Henry sich um. Irgendwie waren alle verschwunden..
Ab und an machte er einen kläglichen Versuch, Luckys Gardinenpredigt zu stoppen, indem er ein zartes "Aber das war doch garnicht.." oder "Ich wusste doch nicht" einwarf, doch Lucky war in Fahrt und kannte kein erbarmen. Immer wieder fuhr ihr Zeigefinger auf die Brusttasche seiner Weste nieder, und er war froh, dass das dort steckende Einstecktuch den Aufprall immerhin etwas dämpfte. Trotzdem würde er vermutlich einige Hämatome davontragen.
Und all das wegen Richard! Nur weil der sich einen Spaß erlaubt hatte, musste Henry sich nun diese Schimpftriade anhören! Nur wegen Richard war jede Hoffnung auf eine nähere Bindung an die Liebe seines Lebens gestorben! Nur wegen Richard war sein Herz gebrochen und dazu irreparabel! Und nur wegen Richard war seine Bügelfalte dahin!
Moment mal.. Seine Bügelfalte.. Da war doch etwas gewesen.. Henry blickte an sich hinunter. Tatsächlich, statt schön geordnete hieng sein Hosenbein komplett schlabbrig schwammig schlammig an ihm herunter! Und das alles nur wegen seinen Gefühlsdusseleien für diese blöde Neureiche Schnäpfe, die viel zu Arrogant war, um seine Gefühle, oder ihn, überhaupt irgendwie zu Bemerken! Die ihn bei jedem Ball eiskalt abserviert hatte, und der er trotzdem wochenlang hinterhergerannt war!
Zum Glück war das nun vorbei.. Zum Glück war er endlich von dieser absolut bescheuerten Idee, sie könnte das eine Mächen auf der Welt sein, mit dem er den Rest seiner Tage verbringen wollte, geheilt! Auch das hatte Richard ausgelöst. Irgendwie war er garnicht so traurig darüber..
In diesem Moment erspähten Henrys Augen, die Luckys Blicken ausweichend über deren Schulter starrten, eine weibliche Gestalt mit einem Sonnenschirm und einem kleinen Hund an der Leine auf den Feldern außerhalb des Stadttores. Sie bewegte sich mit einer so unglaublichen Grazie, und die mittlerweile sinkende Sonne malte einen Regenbogen an den Himmel, welcher die überspannte. Das Licht spielte sanft in ihrem güldenen Haar. Sie war einer Göttin gleich! Sie war.. Atemberaubend!
Garkein Vergleich zu diesem dummen Mädchen, nach dessen Liebe er sich noch vor wenigen Stunden verzehrt hatte.
"Die Wäschereirechnung werde ich dir dann zukommen lassen."
Henry lächelte glückseelig über Luckys Schulter hinweg. "Natürlich, natürlich, vielen Dank im Vorraus!". Er wandte sich von Lucky ab und taumelte auf das Stadttor zu. Das Mädchen mit dem Hund war gerade dabei, aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Er würde es niemals schaffen, sie rechtzeitig einzuholen. Doch einerlei, sein Leben hatte endlich wieder ein Ziel, einen Sinn! Sogar einen sinnvollen Sinn, um Gegensatz zu dieser sinnlosen Anbetung dieser unwürdigen anderen Gestalt!
Und das alles nur dank Richard!
In diesem Moment liebte Henry seinen Freund. Das Leben war so schön! Trunken schwebte er über die Felder, bis er in einen Graben fiel. Der Bauer hatte mit Gülle gedüngt.

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